Verfemten Autor*innen eine Stimme geben- öffentliche Lesung zur Bücherverbrennung 1933
- jule-1994
- 10. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Die Veranstaltung sollte ursprünglich im Gedenkort Halle 116 stattfinden, der derzeit nicht zugänglich ist und wurde in den Augustanasaal verlegt.
Insgesamt 40 Autor*innen wurden von verschiedenen Initiativen und Vereinen vorstellt. Unser Mitglied Elisabeth Friedrichs trug aus dem Text "Berlins drittes Geschlecht", 1904 von Dr. Magnus Hirschfeld verfasst.
Dr. Magnus Hirschfeld (1868–1935) gründete 1919 in Berlin das Institut für
Sexualwissenschaft. Als jüdischer, homosexueller und sozialdemokratischer
Sexualwissenschaftler war er kontinuierlich Anfeindungen aus dem rechtsextremen Lager ausgesetzt und wurde 1920 nach einem Vortrag in München fast zu Tode geprügelt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde sein Institut geplündert (Vermutung). Auch Unterlagen von NS-größe homosexuell sollten vernichtet werden) viele Unterlagen wurden zerstört. Hirschfeld befand sich zu dieser Zeit auf einer Weltreise. Er starb 1935 im Exil in Nizza.
Kontrovers und teilweise sehr kritisch wurde in den 80er seine Faszination von der Eugenik gesehen. Heute wird er weltweit nicht nur als früher Kämpfer für die Entkriminalisierung der Homosexualität, sondern auch als jemand gewürdigt, der einen frühen wissenschaftlichen Beitrag zum Verständnis von Queer-Konzepten geleistet hat.
Schon 1904 verfasste er die 61 Seiten lange Schrift: „Berlins Drittes Geschlecht, die als Band 3 der 10 bändige Ausgabe: „Großstadtdokumente“, erschienen ist, die von dem Journalisten Hans Ostwald herausgegeben wurde.
(Sein Motto: „Die grosse Ueberwinderin aller Vorurteile Ist nicht die Humanität, sondern die Wissenschaft.“)
Mit großem Ernst, mit Scharfsinn, aber auch mit Humor schildert er die vielfältigen Milieus in der Millionenstadt Berlin.
Gleich am Anfang weist er eine Befürchtung zurück:
„: … „es könnte durch populäre Schriften für die Homosexualität selbst ‚Propaganda‘ gemacht werden. … Die Gefahr liegt aber nicht vor. Die Vorzüge der normalsexuellen Liebe, wie sie – um nur eine von vielen zu nennen – vor allem im Glück der Familie zum Ausdruck gelangt, sind denn doch so gewaltige, die Nachteile, die aus der homosexuellen Anlage erwachsen, so außerordentlich, daß, wenn ein Wechsel der Triebrichtung möglich wäre, er gewiß für die Homosexuellen, nicht aber für die Normalsexuellen in Betracht kommen würde. …“
Und er schließt seine Einleitung mit der Aussage: …Ob und wie weit die Handlungen der Homosexuellen … ihre Strafverfolgung zweckmäßig und notwendig erscheint … diesen Schluß möge am Ende meines Berichts der Leser seinerseits ziehen“ (S. 2-3)
Seine Erläuterung zum Begriff „Drittes Geschlecht“:
„Ich finde diesen Ausdruck, der schon im alten Rom gebräuchlich war, nicht gerade glücklich, aber immerhin besser als das jetzt so viel angewandte Wort homosexuell (gleichgeschlechtlich), weil dieses der weit verbreiteten Anschauung Nahrung gibt, es müßten, wenn irgendwo mehrere Homosexuelle zusammen sind, sexuelle Akte vorgenommen oder doch wenigstens beabsichtigt werden, was den Tatsachen in keiner Weise entspricht.“ (S. 5).
Hirschfeld erfindet den Begriff des „Uraniers“ oder auch des Urniers“. S 6), den er später wohl nicht mehr benutzte. Er beschreibt viele gesellige Aktivitäten von Uraniern, die belegen, dass Themen und Abläufe sich nicht von anderen Gesellschaftsveranstaltungen unterscheiden: hier zwei Beispiele:
„Ich werde … oft ersucht, Gesellschaften gleichsam als Ehrengast beizuwohnen …: Einmal war ich … auf einer Gesellschaft unter lauter homosexuellen Prinzen, Grafen und Baronen. Außer der Dienerschaft, … unterschied sich die Gesellschaft … wohl kaum von Herrengesellschaften derselben Schicht. Während man am kleinen Tischen sehr opulent speiste, unterhielt man sich anfangs lebhaft über die letzten Aufführungen Wagners’s, für welche fast alle gebildeten Urninge eine auffallend starke Sympathie hegen. Dann sprach man von Reisen und Literatur, fast gar nicht über Politik, um allmählich zum Hofklatsch überzugehen.“ (S. 23.)
Weiter: Der „gerade im Berliner tief verwurzelte Drang nach Scherz und Humor“ zeigt sich bei Verteilung von weiblichen „Decknamen“:
„So gibt es eine Näsenjuste, eine Schmalzjuste, eine Klammerjuste, … eine Spitzenkaroline und eine Umsturzkaroline (weil er durch seine lebhaften Armbewegungen jeden Abend mindestens ein Glas Bier ‘umstürzen‘ soll …)“
Ernsteren Charakter haben die Weihnachtsveranstaltungen mit Christbaum, Weihnachtsliedern und Beschenkungen, zu denen oft wohlhabende Urninge einladen, damit Andere Urninge dort in einer quasi Familienathmosphäre verbringen können, statt alleine, da oft ausgestoßen von ihren Familien. Denn viele Urnige sind einsam, die Selbstmordrate ist hoch, auch wenn die Homosexualität meist nicht als Grund öffentlich wahrgenommen wird. Hinzu kommt die Gefahr der Erpressbarkeit aufgrund der Homosexualität als Straftatbestand, in dem, wie Hirschberg einen Urning zitiert: „nicht die Tat, sondern das Pech bestraft wird.“ (S. 58).
Wenn man bedenkt, dass der §175 erst 1994 in Deutschland abgeschafft wurde, ist es schon erstaunlich, dass im Jahre 1904 – wie Hirschfeld schreibt: „von den 750 Direktoren und Lehren höhere Lehranstalten … neben 2800 Ärzten die von Hirschfeld und seinem hierfür 1896 gegründeten „Humanitäten Komitees“ „initiierte Petition an den Reichstag unterschrieben, welche die Aufhebung des Urningsparagraphen fordert“.
(So EF) schrieb ein Berliner Pädagoge, ‚daß er noch bis vor kurzem unbekannt mit der in
Rede stehenden Materie, an die Notwendigkeit des § 175 geglaubt hätte,; erst nach dem
Tode eines edlen, für das Schöne, Wahre und Gute begeisterten Jünglings, dem die
Entdeckung kontrasexueller Neigungen den Revolver in die Hand drückte – seines Sohnes – seien ihm die Augen übergegangen und aufgegangen‘. ‚ Ein schwergebeugter Vater‘ schließt er‚ dankt dem wissenschaftliche humanitären Komitee für sein menschenfreundliches Wirken“ (S. 59).
Hirschfeld beendet seine Schrift mit einem Appell, aus dem ich in Auszügen vorlese:
„Es war einmal ein Fürstbischof Philipp, der residierte in der alten Stadt Würzburg am Main. Es war in der Zeit 1623 bis 1631. In diesen acht Jahren ließ der Bischof, wie uns die Chroniken rühmend berichten, 900 Hexen verbrennen. Er tat es im Namen des Christentums, im Namen der Sittlichkeit, im Namen des Gesetzes und starb im Wahne, ein gutes Werk vollbracht zu haben.
Wir aber, die wir wissen daß es niemals Hexen gab, werden noch heute von tiefem Schauder erfasst, gedenken wir dieser zu Unrecht gerichteten Frauen und Mütter.
In unsere guten Stadt Berlin leben zwei geistliche Herren, von denen der eine Philipps, der andere Runze heißt. Sie sagen, sie verkünden die Lehre des verehrungswürdigsten Meister, der da die Worte zum Volke sprach: ‚Wer unter Euch frei von Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie.‘
Wie ihre Vorgänge in den Lahmen Gezeichnete, in Geisteskranken Besessene und in den Seuchen Strafen des Himmels sahen, so sehen sie in den Homosexuellen Verbrecher und bezeichnen unseren Kampf für die Homosexuellen als ‚ruchlose Schamlosigkeit‘ (Kreissynode II Berlin vom 17. Mai 1904).
Sie wähnen ein ebenso gutes Werk zu tun wie weiland der Fürstbischof Philipp, wenn sie
schwere Freiheitsstrafen für die Homosexuellen fordern.
Nun prüfe, was ich Dir von den Berliner Urningen erzählte – daß alles der Wahrheit
entspricht, dafür stehe ich ein – erwäge es mit Deinem Verstande und Deinem Herzen und entscheide, wo mehr Wahrheit, mehr Liebe, mehr Recht ob bei jenen Männern der Kirche, die sich gewiß für frei von Schuld halten, sonst würden sie schwerlich so viele Steine auf die Homosexuellen werfen oder auf Seiten derer, die nicht wollen, daß sich die Opfer menschlichen Unverstandes noch höher häufen, die entsprechend den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschungen und der Selbsterfahrung vieler tausend Personen wünschen, daß endlich Verkennung und Verfolgung aufhören, an welche die Menschheit zurückdenken wird, wie an die Hexenprozesse Philipps, des streitbaren Bischofs von Franken.“ (S 60/61).